Ein Interview mit Claudia Kessler, Public Health Aerztin

In der Schweiz gibt es mehr als eine halbe Million betreuende und pflegende Angehörige. Sie unterstützen die Personen der COVID-19 Risikogruppen und leisten zu Hause einen «systemrelevanten» Beitrag zur aktuellen Versorgung.  Betreuende Angehörige sind in der aktuellen Lage mit vielen Herausforderungen konfrontiert und fühlen sich oft zuhause noch mehr allein gelassen und isoliert als sonst schon. Neben der Sorge, dass sie selbst, andere Angehörige oder eine externe Fachperson den Erreger «ins Haus schleppen» könnten, beschäftigen sie Fragen wie z.B. Notfallpläne für den Ersatz im eigenen Krankheitsfall, Patientenverfügung und Klärung des Willens (z.B. bezüglich Intensivbehandlung) der betreuten Person, aber auch ungelöste arbeitsrechtliche Fragen.

PH: Im Moment macht sich die ganze Schweiz Sorgen um ältere und chronisch kranke Personen. Wie aber geht es  den Angehörigen, die sie jetzt während der Coronavirus-Epidemie betreuen und pflegen?

CK: Ich kann diese Frage eigentlich nur für mich und Menschen in meinem Umfeld beantworten. Aktuell gehören sowohl mein Mann als auch meine Eltern zu den sogenannten vulnerablen Gruppen im Falle einer COVID-19 Infektion. Die Frage, wie es anderen betreuenden Angehörigen geht, stelle ich mir seit Ausbruch der Epidemie in der Schweiz. Denn ich selbst und auch betreuende Angehörige unter meinen Freunden und Bekannten sind aktuell vor grosse Herausforderungen und Fragen gestellt, zu denen es von offizieller Seite bisher noch keine passenden Antworten gibt. Dies ist in einer akuten Krisensituation, wie sie jetzt vorherrscht, verständlich, denn zuerst muss es um die Information für die Gesamtbevölkerung gehen. Es hat mich aber auch dazu veranlasst, Ihnen dieses Interview zu geben, um als mitbetroffene Fachperson quasi «Bottom-up» einen kleinen Beitrag im Interesse der betreuenden Angehörigen zu leisten.

PH: Welche spezifischen Herausforderungen stellen sich in dieser Situation für die betreuenden Angehörigen?  

CK: Die «betreuenden Angehörigen» sind eine sehr heterogene Gruppe, daher gibt es keine verallgemeinerbare Aussage zu Ihrer Frage. Das können z.B. Erwachsene sein, die sich um Eltern oder Schwiegereltern kümmern; Partner und Partnerinnen von unterstützungsbedürftigen Personen; Kinder und Jugendliche, sogenannte «Young Carers», die sich nun um Ihre kranken Eltern sorgen müssen, etc. Auch macht es einen Unterschied, ob die Person Unterstützung und Betreuung braucht oder bereits pflegebedürftig respektive vielleicht sogar am Lebensende angelangt ist. Angehörige dieser Menschen stehen vor unterschiedlichen Herausforderungen.

P.H. Vor welchen Herausforderungen stehen Sie ganz konkret selber?

CK: Unsere Situation ist insofern nicht vergleichbar, weil wir schon länger mit Einschränkungen leben gelernt haben, was in dieser Situation vielleicht sogar ein Vorteil ist.

Ich selbst bin bereits vor drei Wochen zum letzten Mal an eine Sitzung nach Bern gependelt und arbeite seither im Homeoffice. Ich lebe seither weitgehend in einer Art selbstgewählter Quarantäne mit meinem Mann. Während ich mich zu Beginn mit ihm «mit-eingeschlossen» fühlte, hat sich dieses Gefühl über die Tage gewandelt, vor allem seit nun dieses Verhalten nun auch der Allgemeinbevölkerung nahegelegt wird. Interessant finde ich auch, dass ich realisiere, dass mein Mann und ich vielleicht besser auf die jetzigen Einschränkungen vorbereitet sind als andere.

Über viele Jahre musste er – und ich mit ihm – lernen, mit Ungewissheit und Einschränkungen zu leben wegen einer chronischen Krankheit. Kontrolle über das Geschehen war lange schon kein Thema mehr. Wenn ich mitbekomme, wie schwer es einigen Freunde nun fällt, wegen Corona auf Reisen in andere Kontinente und auf andere Freuden zu verzichten, dann bin ich auch dankbar um diese Erfahrungen.

Und manchmal hoffe ich auch, dass die Öffentlichkeit vielleicht durch diese Situation besser verstehen lernen könnte, in welchen Situationen sich schwer geforderte Angehörige tagein und tagaus oft über Jahre befinden. Da gibt es noch viel schwierigere Situationen als meine eigene!

PH: Welche Fragen stellen sich denn den betreuenden und pflegenden Angehörigen neben der Frage einer möglichen Ansteckung ganz aktuell? 

CK: Es sind wiegesagt viele! Um nur einige Beispiele zu nennen:

Angehörige, die ihre Nächsten pflegen, sorgen sich z.B. um Fragen, wie:

  • Was passiert, wenn ich selbst erkranke und ausfalle? Wer kann dann einspringen?
  • Was passiert, wenn mein Hausarzt/meine Hausärztin oder die Spitex-Mitarbeiterin ausfällt, wer hilft mir dann? Was, wenn ich Hilfe in einem Notfall brauche, und alle sind mit der COVID-19 Versorgung beschäftigt?
  • Welche Hilfe kann ich überhaupt noch ohne Risiko für meine/n Nächste/n ins Haus lassen?
  • Und Angehörige, die eine Person mit Demenz unterstützen, werden sehr gefordert sein, dieser Person das Geschehen verständlich zu machen und fühlen sich evtl. selbst durch nicht kontrollierbares Verhalten der Person gefährdet.

Andere, zum Beispiel die Erwachsenen Kinder von hochaltrigen Eltern beschäftigen vielleicht Fragen wie:

  • Müssen wir uns nun von unseren Eltern fernhalten?
  • Was machen wir mit der Putzfrau, die unsere Eltern unterstützt? Ist die Hilfe wichtiger oder das Risiko?

Und wie es Kindern und Jugendlichen geht, die schwer kranke Eltern oder auch Geschwister betreuen, das können wir uns wohl gar nicht vorzustellen….

PH: Viele Fragen! Haben Sie auch ein paar Ratschläge an die Betroffenen?

CK:  Wichtig erscheint mir, dass betreuenden Angehörige sich anderen mitteilen. Das kann per Telefon oder Skype sein, auch mal durch ein Fenster. Es gilt vor allem, sich Gedanken zu einem Plan B zu machen. Uns allen fällt es schwer, über den «worst case» zu sprechen – deshalb spreche ich dies Situationen nun an. Sprechen über das «Was wenn?» ist nun nötig und kann auch sehr entlastend wirken. Es muss einen mit allen (der betreuten Person, anderen Familienmitgliedern, den Fachleuten, etc.) abgesprochenen Notfallplan geben, in dem auch geklärt ist, wer bei Bedarf übernehmen könnte.

Ein anderes Thema ist die Patientenverfügung. Wer noch keine hat, sollte nun rasch eine aufsetzen. Auch bei einer bestehenden Patientenverfügung gibt es offene Fragen. Vielleicht ist festgelegt, dass die Person keine Reanimation oder lebensverlängernden Massnahmen will. Aber wie steht es mit einer Intensivbehandlung, die in diesem Fall nicht unter diese Massnahmen fallen dürfte, da sie eine lebensschützende Massnahme ist. Hier gilt es den Willen der Betroffenen zu klären. Betroffene müssen auch wissen, dass sie einmal getroffene Entscheidungen jederzeit wieder revidieren können – nur müssen sie das kommunizieren, und wenn möglich dokumentieren.

Neben diesen Ratschlägen zu schwerwiegenden Fragen gibt es auch einfachere Themen. Würde Ihnen zum Beispiel etwas Bewegung gut tun? Dazu gibt es bei Youtube viele Videos für Alt und Jung zum Homeworkout. Oder haben Sie Halsweh und fragen sich, ob Sie sich nun testen lassen sollten? Ohne aus dem Haus zu gehen, könnte Ihnen der Corona Online-Test aus der Romandie dazu eine Entscheidungsgrundlage liefern.

PH: Und welche Ratschläge haben Sie für die breite Öffentlichkeit?

CK: Betreuende Angehörige brauchen nun Ihre Unterstützung, auch wenn diese aktuell vielleicht nicht in der üblichen Form geleistet werden kann. Fragen Sie die betreuenden Angehörigen, was ihnen gut tun, was ihnen helfen würde. Vielleicht sind es regelmässige telefonische Anrufe, vielleicht ein Lesekreis mit anderen über Skype, vielleicht ein Einkauf vor die Tür gestellt, etc. Da bin ich auch sehr darauf gespannt, was betreuende Angehörige dazu in Ihrem Forum zu sagen haben werden!

PH: Und zum Schluss, gibt es Anliegen an die Behörden?

 CK: Auch da würde ich gerne andere betreuenden Angehörigen aus ihrem Forum selbst zu Wort kommen lassen. Ich selbst finde, dass z.B. geklärt werden sollte, dass nicht nur Mitarbeitende im Gesundheitswesen, sondern auch betreuende Angehörige eine grosse «systemrelevante» Gruppe sind.

Es gibt in der Schweiz laut den neuesten Forschungsergebnissen des Bundesamts für Gesundheit mehr als eine halbe Million von ihnen. Diese Gruppe ist definitiv too big to fail! Arbeitsrechtlich sollte geklärt sein, was passiert, wenn jemand frei nehmen muss, um einer nahestehenden schwer und chronisch kranken Person zu helfen.

Gibt es ein Anrecht auf Auszeit oder auf flexibles Arbeiten im Homeoffice, wie für die Personen, die selber zu den Risikogruppen gehören? Wie steht es mit dem neuen Bundesgesetz über die Verbesserung der Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Angehörigenbetreuung, welches aktuell aber noch in der Vernehmlassung ist? Greift das schon und wäre es in einer solchen Situation anwendbar? Natürlich auch die Frage: Sind die Mitarbeitenden der BAG Hotline geschult zu den spezifischen Fragen der betreuenden Angehörigen?

Mein Wunsch wäre, dass die spezifischen Bedürfnisse dieser Personen bei allen Entscheiden und Communiqués zukünftig systematisch mitgedacht würden. 

Claudia Kessler ist seit über zehn Jahren unterstützende, oder mit dem offiziellen Begriff "betreuende", Angehörige. Ihr Mann leidet an schweren chronischen Erkrankungen. Bei Bedarf unterstützt sie auch Ihre Eltern, beide um die neunzig Jahre alt. Eigene Erfahrungen haben sie für das Thema «betreuende Angehörige» sensibilisiert. Im Rahmen ihrer Arbeit bei Public Health Services/PHS ist sie für verschiedene nationale und kantonale Organisationen zum Thema beratend tätig

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