Alt werden ohne Familienangehörige

Das Migros Kulturprozent hat die Ergebnisse einer neuen Studie auf der Website www.im-alter.ch publiziert. Darin findet sich eine Zusammenfassung relevanter wissenschaftlicher Erkenntnisse zur informellen Sorgearbeit.

Aufgefallen ist das soziale Phänomen des Alterns ohne Familienangehörige. In der Schweiz werden viele Menschen ohne Familienangehörige alt: Bereits heute haben mehr als 8 Prozent der Bevölkerung im Pensionsalter keine Familienangehörigen.

Und in Zukunft wird eine immer grössere Zahl von Menschen in der Schweiz ohne Familienangehörige alt. Das ist vor allem darauf zurückzuführen, dass in Zukunft mehr Menschen in der Schweiz alt werden, die keine Kinder haben.

Wir haben die explorative Studie von Carlo Knöpfel und Nora Meuli von der Fachhochschule Nordwestschweiz, Hochschule für Soziale Arbeit gelesen und erlauben uns neun Punkte  zusammenzufassen:

  1. Familienangehörige wollen und können in Zukunft keine unbezahlte Sorgearbeit leisten

  2. Persönliche Ressourcen sind in der Gesellschaft ungleich verteilt

  3. Kaum finanzielle Unterstützung durch die öffentliche Hand

  4. Unterschiedliche Motive für Carearbeit

  5. Alt werden ohne Familienangehörige

  6. Strategie «ambulant vor stationär» auf Kosten der unbezahlten Sorgearbeit

  7. Zielkonflikt: Frauen sollten gleichzeitig unbezahlte Sorgearbeit leisten und Erwerbsarbeit aufnehmen.

  8. Hohes Armutsrisiko im Alter für Frauen

  9. Vernetzung zwischen den sozial- und gesundheitspolitischen Akteuren


9 Fakten, die jeder Mensch über gute Betreuung im Alter und unbezahlte Care-Arbeit wissen muss

Der Übergang von einem agilen in ein pflegebedürftiges Lebensalter wird immer länger und der Bedarf an Unterstützung und Betreuung im Alltag wächst zunehmend.

Diese Care-Arbeit wird vorwiegend von Familienangehörigen geleistet: von der Lebenspartnerin oder dem Lebenspartner und den Kindern. Auch andere Verwandte, Freundinnen und Freunde sowie Bekannte können eine sehr wichtige helfende Rolle einnehmen. 

  • Familienangehörige wollen und können in Zukunft keine unbezahlte Sorgearbeit leisten

    Ersteres, weil die Sorgearbeit vor allem von weiblichen Familienangehörigen übernommen wird, deren Arbeitsmarktbeteiligung aber laufend steigt. Das hängt damit zusammen, dass ihre Arbeitskraft von Politik und Wirtschaft gefordert wird (Stichwort «Fachkräfteinitiative»).

    Gleichzeitig wird die Sorgearbeit von Familienangehörigen, die auch auf Kosten der Erwerbsarbeit geleistet wird, nicht entschädigt und ist kaum sozialversichert. Deshalb ist das Erbringen von Sorgearbeit ein Armutsrisiko.

    Der zweite Umstand, dass Familienangehörige keine Unterstützung mehr leisten wollen, wird damit begründet, dass sie sich nicht mehr dazu verpflichtet fühlen.

    Weiter spielt die geografische Nähe eine Rolle. In der Schweiz ist die Distanz zwischen den Kindern und ihren (Schwieger-)Eltern grosser als im Ausland. 52.8 Prozent der Kinder haben weder Eltern noch Schwiegereltern, die in weniger als 25 Kilometer Distanz zu ihnen wohnen.

    Es gibt viele Menschen, die zwar Familienangehörige haben, diese bieten aber ein sehr kleines Unterstützungspotenzial: Die soziale Bindung zu den Familienangehörigen kann schwach sein, die Distanz zu gross oder die materiellen Ressourcen zu gering, um Hilfe leisten zu können und zu wollen. Auch diese Menschen sind auf professionelle Hilfe, Betreuung und Pflege im Fragilisierungsprozess angewiesen.

  • Persönliche Ressourcen sind in der Gesellschaft ungleich verteilt

    Nicht alle Angehörigen haben die gleichen Möglichkeiten, ihre Familienmitglieder zu unterstützen. Die Unterstützung erfordert Zeit, Kraft, Wissen und ein soziales Umfeld, das mitträgt. Eine Arbeitszeitreduktion muss man nicht nur wollen, sondern sich auch leisten können. Die Kraft oder Energie, einen älteren Angehörigen zu unterstützen, erfordert neben Zeit auch eine gute körperliche und psychische Gesundheit.

    Einen Angehörigen zu unterstützen, kann eine grosse Belastung sein. Das Wissen um Unterstützungsangebote kann entlasten helfen, und Freundinnen und Freunde, Verwandte und Bekannte können einspringen oder auch einfach nur zuhören und damit mittragen. 

  • Kaum finanzielle Unterstützung durch die öffentliche Hand

    Für betreuende Familienangehörige gibt es vor allem die Möglichkeit, Betreuungsgutschriften bei der Alters- und Hinterlassenenversicherung zu beantragen: Diese Betreuungsgutschriften können Versicherte bekommen, wenn sie pflegebedürftige Verwandte betreuen, die nicht zu weit entfernt wohnen. Als Verwandte gelten Eltern, Kinder, Geschwister und Grosseltern sowie Ehegatten, Schwiegereltern und Stiefkinder.

    Durch diese Gutschrift erhöht sich der Betrag, der die betreuende Person in die AHV einbezahlt. Dadurch kann die betreuende Person, wenn sie in Rente geht, eine höhere AHV-Rente beziehen. Bei verheirateten Personen wird die Gutschrift während der Kalenderjahre der Ehe je zur Hälfte aufgeteilt.

    Diese Betreuungsgutschriften können aber lediglich in der Alters- und Hinterlassenenversicherung angerechnet werden und nicht als Pensionskassenguthaben. Entsprechend kann auch nur die Rente aus der Alters- und Hinterlassenenversicherung mit den Betreuungsgutschriften verbessert werden. Diese macht aber für den durchschnittlichen Rentenbeziehenden in der Schweiz nur rund die Hälfte seines Renteneinkommens aus.

    Für betreuende Familienangehörige, die eine gut verdienende Partnerin oder einen gut verdienenden Partner haben, erhöht sich die Rente durch die Betreuungsgutschrift nicht, weil sie bereits Anspruch auf die maximale AHV-Rente haben.

    “Wirklich wichtig wären Betreuungsgutschriften für jene mit tiefen Erwerbseinkommen oder für all jene, die (noch) nicht Anspruch auf eine maximale AHV-Rente haben. “

    Bei Menschen mit tieferen Einkommen stellt sich aber zuerst die Frage, ob sie es sich überhaupt leisten können, weniger zu verdienen: Eine Arbeitszeitreduktion zugunsten der Betreuung bedeutet auch ein tieferes Erwerbseinkommen, einen geringeren Schutz bei den Sozialversicherungen und eingeschränkte Karrierechancen. Die Aussicht auf Betreuungsgutschriften im Rentenalter vermögen diese Nachteile kaum aufzuwiegen.

 

  • Unterschiedliche Motive für Carearbeit

    Pflegende Partner, Partnerinnen, Söhne und Töchter geben als Motive ihres Engagements in erster Linie Liebe und Zuneigung an. Bei pflegenden Partnern kommen aber auch Gefühle der Verpflichtung als gleichwertigen Grund dazu, während moralische Verpflichtungsmotive bei pflegenden Partnerinnen klar zweitrangig sind. Ähnlich wie bei den Partnerinnen sieht es bei den Töchtern aus: Das wichtigste Motiv ist die Liebe und Zuneigung. Im Vergleich zu den Partnerinnen fühlen sich die Töchter aber wesentlich weniger häufig verpflichtet.

    Bei den pflegenden Söhnen dagegen ist die moralische Verpflichtung klar das Hauptmotiv, sehr viele (und ein viel grösserer Anteil als bei den Töchtern) geben aber auch an, dass ihnen die Pflege ein gutes Gefühl gebe. Diese geschlechterspezifischen Unterschiede wird erklärt mit der unterschiedlichen Ethik der Fürsorglichkeit von Frauen und Männern: Während für Frauen Liebe und Zuneigung ausschlaggebend sind, ist bei Männern die Prinzipientreue mindestens so zentral.

    Neben diesen Motiven werden von den befragten Partnern, Partnerinnen, Söhnen und Töchtern aber auch die Alternativlosigkeit und Notwendigkeit sowie die hohen Kosten für eine professionelle Pflege als Gründe für ihr Engagement genannt.

  • Alt werden ohne Familienangehörige

    Alt werden ohne Familienangehörige bedeutet nun, dass man im Fragilisierungsprozess nicht auf das Verpflichtungsgefühl oder die Liebe und Fürsorge der Kinder bauen kann, sondern sich diese Hilfe anders organisieren muss. Freundinnen und Freunde können ebenso wichtige informelle Hilfe leisten wie Familienangehörige, aber es ist eine andere Art von Beziehung.

    Die Pflege-Realität in der Schweiz widerspiegelt dieses familiale Ideal nicht: Es gibt zwar ein gut ausgebautes ambulantes und stationäres Versorgungsnetz für ältere Menschen, ähnlich wie jenes in skandinavischen Ländern. Aber anders als in Skandinavien müssen die älteren Menschen in der Schweiz einen grossen Teil der Betreuungs- und Pflegekosten selber tragen.

    Vor allem eine gute Betreuung kommt ältere Menschen in der Schweiz teuer zu stehen. Bei der Pflege fällt ein Selbstbehalt an, der grösste Teil wird aber von den Krankenkassen übernommen. Entsprechend übernehmen Familienangehörige vor allem die Betreuung und weniger pflegerische Aufgaben.

    Im Vergleich zu den Nachbarländern ist die familiale Pflege also weniger stark verbreitet. Es stellt sich die Frage, ob es nicht auch ein Anrecht auf eine gute Betreuung in der Schweiz braucht und professionelle Betreuung ebenfalls Teil des Service public im Sozial- und Gesundheitswesen werden soll.

    Die Vorstellung, ein Ausbau der sozialstaatlichen Leistungen und der professionellen Pflege und Betreuung reduziere die intergenerationelle Solidarität, ist längst überholt:

    «Ein ausgebauter Wohlfahrtsstaat trägt mit guter sozialer Absicherung älterer Menschen und junger Familien dazu bei, dass intergenerationelle Hilfeleistungen von Jung zu Alt und von Alt zu Jung tendenziell häufiger werden.

    Ein Ausbau verstärkt vielmehr die Spezialisierung im Betreuungssetting (Pflege durch Spitex und Hilfe durch Familienangehörige).

  • Strategie «ambulant vor stationär» auf Kosten der unbezahlten Sorgearbeit

    Bedingt durch den demografischen Wandel und die entsprechend erwartete Kostenzunahme setzen Bund und Kantone auf die Strategie «ambulant vor stationär».

    Ältere Menschen sollen nach Möglichkeit zu Hause betreut und gepflegt werden. Diese «Einsparungen» gehen zeitökonomisch voll auf Kosten der unbezahlten Sorgearbeit: Die Pflege wird zwar zu einem gewissen Teil durch die Spitex übernommen, die Hilfe und Betreuungsarbeit müssen aber entweder die Familie, Freundinnen oder Freunde und Freiwillige übernehmen, oder die älteren Menschen sind auf sich allein gestellt.

    “Wenn es sich Menschen ohne betreuende Familienangehörige nicht leisten können, diese Hilfe einzukaufen, ist es nur schwer vorstellbar, wie sie diese Situation bewältigen.”

    Die Strategie «ambulant vor stationär» setzt also sehr stark auf die informelle Arbeit der Familienangehörigen, damit Kosten im Gesundheitssystem eingespart werden können. Die ambulanten Betreuungs- und Pflegesettings funktionieren nicht ohne den grossen Einsatz von Familienangehörigen.

    Ambulant vor stationär ist als Strategie ohne Zweifel auf informelle Hilfe zu Hause ausgerichtet. Es stellt sich die Frage, ob diese Strategie auch in der nahen Zukunft aufgehen wird: Werden die Familienangehörigen weiterhin diese Betreuungs- und Pflegearbeit unentgeltlich leisten?

  • Zielkonflikt: Frauen sollten gleichzeitig unbezahlte Sorgearbeit leisten und Erwerbsarbeit aufnehmen.

    Die politische Erwartungshaltung den Familien und insbesondere den Familienfrauen gegenüber ist klar: Sie haben sich um ihre älteren hilfsbedürftigen Angehörigen zu kümmern.

    Gleichzeitig werden aber dieselben Frauen vom selben Staat dazu aufgefordert, mehr zu arbeiten: Die Fachkräfteinitiative des Bundes will mehr Frauen dazu bringen, eine Erwerbsarbeit aufzunehmen beziehungsweise in höheren Pensen Erwerbsarbeit zu leisten. Ziel ist es, das inländische Potenzial an Fachkräften verstärkt auszuschöpfen. Damit sollen der Wirtschaft mehr Fachkräfte zur Verfügung stehen, ohne die Zuwanderung weiter zu befeuern.

    “Weil aber die Pflegebedürftigkeit der Eltern mehrheitlich eintritt, während die Kinder selber noch im erwerbsfähigen Alter sind, widersprechen sich diese beiden Strategien diametral. Da hilft auch der Diskurs über neue Formen der Vereinbarkeit kaum weiter.”


    Und was ist mit den Menschen, die ohne Familienangehörige alt werden? Wie organisieren sie sich Hilfe? Übernehmen die bestehenden sozial- und gesundheitspolitischen Institutionen die Sorgearbeit und Verantwortung für diese Menschen? Und falls nicht, was geschieht mit Menschen ohne Familienangehörige?

  • Hohes Armutsrisiko im Alter für Frauen

    Alt werden ohne Familienangehörige ist vor allem ein weibliches Phänomen: Männer können im Fragilisierungsprozess häufig auf die Unterstützung ihrer Partnerin zählen. Frauen dagegen überleben ihren Partner häufig, und wenn sie keine Kinder haben, ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass sie im hohen Alter keine Familienangehörigen haben.

    Die Wahrscheinlichkeit, im Fragilisierungsprozess umfassend unterstützt zu werden, ist deshalb für Menschen ohne Familienangehörige kleiner als für Menschen mit Familienangehörigen. Entsprechend gehen wir ganz allgemein davon aus, dass Menschen ohne Familienangehörige in einem viel grösseren Ausmass auf professionelle Betreuung und Pflege angewiesen sind als Menschen, die Familienangehörige haben.

    Dabei trifft es Frauen gleich doppelt: Sie haben ein höheres Armutsrisiko im Alter, weil sie wegen der geleisteten Sorgearbeit eine kleinere Rente bekommen. Und sie laufen Gefahr, im Alter selber keine Unterstützung zu bekommen, weil sie keine Familienangehörigen (mehr) haben, die ihnen helfen könnten.

  • Vernetzung zwischen den sozial- und gesundheitspolitischen Akteuren

    Bezogen auf Menschen, die ohne Familienangehörige alt werden – ist zudem fraglich, ob die Institutionen angemessen auf diese Gruppe eingehen können.

    Kulturelles Kapital ist entscheidend, um sich im System der sozialen Sicherheit (Hilflosenentschädigung, Ergänzungsleistungen, Sozialhilfe) zurechtzufinden, um Entlastungsmöglichkeiten (Angebote der Spitex, von Pro Senectute und der Hilfswerke) zu kennen und auch in Anspruch zu nehmen.

    Und ob sie den Zugang zu diesen Angeboten finden, ist eine Frage ihrer wirtschaftlichen Ressourcen und ihrer Kenntnisse über das System der sozialen Sicherheit im Alter. Vulnerable ältere Menschen ohne Familienangehörige sind diesbezüglich in einer schlechten Ausgangslage.

    Die verfolgte Strategie im System der sozialen Sicherheit zur Kostensenkung «ambulant vor stationär» baut auf der unentgeltlichen Sorgearbeit auf. Fehlende informelle Sorgearbeit kann zu Lücken in diesem System führen. Die Frage ist, ob die Vernetzung zwischen den sozial- und gesundheitspolitischen Akteuren gross genug ist, um die Unterstützungsfunktion, die Familienangehörige oft leisten, übernehmen zu können.

     

Ein Anrecht auf gute Betreuung gehört auf die alterspolitische Agenda

Die explorative Studie hat gezeigt, dass alt werden ohne Familienangehörige eine sozialpolitische Herausforderung darstellt. Die Zahl von Menschen, die im Alter ohne Unterstützung von Kindern und in keiner Partnerschaft leben werden, wird in den nächsten Jahren deutlich ansteigen.

Dies wirft zunächst Fragen an Institutionen auf, die für die Betreuung und Pflege älterer Menschen da sind. Ob Menschen, die im Alter ohne Familienangehörige sind, besondere und tragfähige Strategien entwickeln, sich zu organisieren, wissen wir noch nicht.

Das soziale Phänomen des Alterns ohne Familienangehörige provoziert sozialrechtliche Fragen. Hier zeigt sich in besonderer Deutlichkeit, wie wichtig ein Anrecht auf gute Betreuung wäre. Diese Forderung gehört auf die alterspolitische Agenda.

Die vollständige Studie finden Sie unter:
www.im-alter.ch

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